In Europa und rund ums Mittelmeer verschwanden die Menschenopfer zwar schon vor dem Zeitalter der großen Entdeckungen im 15. und 16. Jahrhundert, aber nicht so abrupt wie in der Neuen Welt. In Ägypten endete der Brauch vor bereits über viertausend Jahren. Die bei Begräbnissen geopferten jungen Menschen sollten dem verstorbenen Herrscher ins Jenseits folgen, damit es diesem auch nach seinem Tod nicht an Gefolgsleuten mangelte. Grabungsfunde legen nahe, dass zumindest ein Teil der Opfer lebendig eingeschlossen wurde. Doch schon gegen Ende der zweiten Dynastie wurde die Praxis der Menschenopfer in Ägypten aufgegeben.
Auch in Mesopotamien war es eine Zeit lang üblich, mit dem verstorbenen Herrscher weitere Menschen zu bestatten. Zumindest bei der sumerischen Stadt Ur fanden die Wissenschaftler in der Grabungsschicht IIIA entsprechende Hinweise. Die bei den Opfern feststellbaren Schädelverletzungen lassen darauf schließen, dass sie vor dem Begräbnis mit einem spitzen Gegenstand getötet wurden. Für die Zeit nach 2400 v. Chr. sind dann im Zweistromland keine weiteren Menschenopfer nachweisbar.
Die Opferung der Iphigenie. - Ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschenopfer.
Auch in Griechenland glauben die Wissenschaftler, Hinweise auf Menschenopfern gefunden zu haben. So sollen in frühen Zeiten sowohl Kronos als auch Artemis Menschen geopfert worden sein.
Die Erzählung um Iphigenie scheint uns sogar einen Hinweis darauf zu liefern, wann man sich in Griechenland von Menschenopfern abzuwenden begann.
In ihr wird berichtet, dass der griechische Heerführer Agamemnon behauptet hatte, ein besserer Jäger zu sein, als Artemis. Daraufhin setzte eine Windstille ein, die der Göttin der Jagd zugeschrieben wurde und die Weiterfahrt der Flotte unmöglich machte. Es war dem Vogelseher Kalchas vorbehalten Agamemnon die schlechte Botschaft zu verkünden. Artemis forderte für die Freigabe der Winde ein Sühneopfer - die älteste Tochter des stolzen Königs. Nach einigen Turbulenzen erklärte sich schließlich die junge Frau mit dem Opfer einverstanden. Damit stellte sie das Interesse Griechenlands über ihr eigenes Schicksal. Doch letztendlich war es Artemis, die in den Opfervorgang eingriff und die Königstochter rettete.
Diese Geschichte ist vor allem auch deshalb interessant, weil Achilleus das Opfer ursprünglich verhindern wollte. Später dann aber beugte er sich dem Willen der jungen Frau. Da der Superkrieger das urtümliche Bild des alten Achaias vertrat, ist der Zwiespalt, in den ihn die Ereignisse stürzten, umso bemerkenswerter. Der Hinweis auf die Abkehr von Menschenopfern ist gerade auch durch dieses Detail kaum zu übersehen.
Viel konsequenter in ihrer Ablehnung trat die Mutter Iphigenies auf. Voller Abscheu verglich Klytaimestra (Klytaimnestra oder auch Klytämnestra) die Tötung ihrer Tochter mit der Schlachtung eines Tieres. Mit dieser Ansicht machte die Königin von Mykene den gesellschaftlichen Wandel zu einer neuen Wertvorstellung deutlich.
Alte Quellen - neue Geschichten
Wer sich bei der Opferung der Iphigenie an die biblische Erzählung um Abraham und Isaak erinnert fühlt, liegt ganz richtig. Die Parallelen sind unverkennbar und nicht von der Hand zu weisen.
Abraham erhält von Gott den Befehl, seinen Sohn Isaak zu opfern. Daraufhin zieht er mit ihm und zwei seiner Knechte zu einem nicht näher benannten Berg, wo die Zeremonie vollzogen werden soll. Dort belügt Abraham seine Begleiter und macht ihnen vor, den Berg nur zu einem Gebet besteigen zu wollen. Die Knechte sollten derweil zurückbleiben und auf seine Rückkehr warten. Isaak durfte sich ihm jedoch anschließen und sogar noch das Holz auf den Berg tragen, das für das Opferfeuer war.
Am Ende verhindert schließlich ein von Gott gesandter Engel die Durchführung der Opferzeremonie. Die Selbstverständlichkeit, mit der Abraham der Forderung seines Gottes nachkam, lässt darauf schließen, dass in den frühen Wurzeln dieser Religion Menschenopfer durchaus einen Platz innehatte.
Die Bindung Isaaks. - Die Ähnlichkeiten zur Opferung der Iphigenie sind erstaunlich.
Es ist durchaus möglich, wenn auch nicht gesichert, dass die Bindung Isaaks von der Sage um Iphigenie inspiriert wurde.
Dass die Schreiber der Bibel nicht abgeneigt waren, Erzählungen aus anderen Kulturkreisen in christliche Geschichte umzudeuten, ist hinlänglich bekannt.
Ein treffliches Beispiel für dieses Vorgehen ist die alttestamentarische Sintfluterzählung, die aus dem viel älteren Gilgamesch-Epos übernommen worden ist. Die biblischen Autoren schrieben lediglich einige Bausteine der Erzählung um und passten sie dem eigenen Anliegen an. Viele Details, etwa die Rettung der Tiere, oder dass die Arche an einem Berg strandete, blieben hingegen bestehen. Auch die Geschichte, dass zur Erkundung des Landes Vögel ausgesendet wurden, findet sich in beiden Erzählungen. Ansonsten hat die größte Mühe der biblischen Verfasser darin bestanden, den Namen des Protagonisten von Utnapischtim (Uta-na’ištim) in Noah zu ändern.
Der Fairness halber sei aber an dieser Stelle erwähnt, dass die Sintflutgeschichte wohl ursprünglich aus dem noch älteren sumerischen »Atrahsis-Epos« stammt, welches in altbabylonischer Zeit, also etwa 1000 v. Chr., überarbeitet worden war.
Der Verfasser des viel jüngeren Koran bediente sich wiederum beim Alten Testament. Offensichtlich verfolgte Mohammed die gleiche Strategie wie die biblischen Autoren. Auch diese haben versucht, den historischen Werdegang der eigenen Religion möglichst weit herzuleiten, um sie ehrfurchtgebietend auszugestalten. Im Zuge dieser Bemühungen wurde auf schon lange zuvor bestehende Überlieferungen zurückgegriffen. Im Fall des Alten Testaments lässt sich dies an der Sintfluterzählung nachvollziehen. Mohammed nutzte hingegen das Christentum als eine seiner wichtigsten Quellen.
Die längsten Wege führen nach Rom.
Von Plinius dem Jüngeren wissen wir, dass der römische Senat 97 v. Chr. Menschenopfer untersagte. Das ist ein erstaunlich spätes Jahr, schließlich hatten die Römer einst den Karthagern vorgeworfen, ihrem Gott Baal-Hammon Kinder zu opfern. Heute vermuten die Wissenschaftler, dass mit dieser Geschichte Karthago in Verruf gebracht werden sollte. Tatsächlich fanden sich bisher keine Belege dafür, dass die Karthager zur Zeit der Punischen Kriege ihren Göttern Kinderopfer dargebracht haben.
In der Geschichte schwingen aber durchaus Erinnerungen an die Phönizier mit, von denen wiederum behauptet wird, Menschen geopfert zu haben. Da Karthago von Siedlern aus dem phönizischen Tyros gegründet worden war, bestand zwischen diesen Völkern tatsächlich eine enge kulturelle und religiöse Verwandtschaft.
In Rom wandelten sich die Menschenopfer ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. zu den berühmten »munera«, dem Dienst an den Toten. Ab diesem Zeitpunkt wurden die wehrlosen Opfer, durch die Gladiatoren ersetzt.
Noch heute, nach etwa 1500 Jahren, geht von den sogenannten Spielen eine ungewöhnliche Faszination aus. Neben vielen Autoren, die dazu unzählige Werke veröffentlicht haben, nahm sich auch Hollywood nur zu gern dieses Themas an.
Was aber unter dem geflügelten Wort »Brot und Spiele« beschrieben wird, ist weit mehr gewesen, als nur ein Kampfsport der üblicherweise klaren Regeln unterlag. Die religiöse Komponente blieb dennoch immer sichtbar. Das wurde vor allem deutlich, wenn nach dem Tod eines Gladiators ein Mann die Arena betrat, der sich wie Charon kleidete. Er übernahm die Rolle des Fährmanns, der in der Mythologie die Toten über den Styx setzte, um ihnen den Zugang in die Unterwelt zu ermöglichen.
Dennoch muss festgestellt werden, dass sich mit der Zeit, der Auftritt der Gladiatoren in eine einzigartige Unterhaltungsshow wandelte, die zugleich der Propaganda diente. Mit den Spielen feierte sich Rom als Beherrscherin aller Völker und der Natur. Selbst dem einfachsten Bürger wurde damit das Gefühl vermittelt, auf der Seite der Sieger zu stehen.
Durch die Bemühungen, die Spiele immer sensationeller auszugestalten, wird zumeist übersehen, dass die Kämpfe von den »munus« hergeleitete wurden, den Totenopfern. Bei Begräbnissen Menschenopfer darzubringen war zur damaligen Zeit nicht neu und durch Kämpfe, die zu Ehren des Verstorbenen veranstaltet wurden, vollzogen. Gefolgebestattungen hatte es, wie weiter oben bereits beschrieben, schließlich auch in Ägypten und Mesopotamien gegeben.
Mit den Kämpfen in der Arena änderte sich jedoch der Ritus, denn an die Stelle ritueller Tötungen traten Zweikämpfe, bei denen nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen die Überlebenschance für beide Gladiatoren bei etwa 81 Prozent lag.
Die Römer hatten die »munera« aus der etruskischen Kultur übernommen. Bis zu ihrem Verbot im 5. Jahrhundert blieben diese auch Teil des gesellschaftlichen Lebens.
In einer Zeit aber, da im Kolosseum durchaus die Chance bestand, dass sogar beide Kämpfer überlebten, wurden bei den Germanen den Göttern noch rituell Menschen geopfert.
Die antiken Quellen berichten auch von Menschenopfern, die bei den Kelten vollzogen wurden. Neben dem Verbrennen und Hängen soll dabei das Ertränken zur Anwendung gekommen sein.
Den Wikinger wird derweil nachgesagt, mit dem Blutadler ein besonders grausames Ritual ausgeübt zu haben. Dabei sollen einem Menschen bei vollem Bewusstsein die Rippen von der Wirbelsäule abgeschlagen worden sein. Anschließend hätte man die Lunge über die sich öffnenden Knochen gezogen, wodurch der Eindruck entstand, dass dem Opfer blutige Flügel gewachsen waren. Doch aus wissenschaftlicher Sicht gibt es für den tatsächlichen Vollzug dieses Rituals keine wirklich belastbaren Beweise.
Im 3. Teil des Blogbeitrags wird die Praxis der Menschenopfer in der jüngeren Geschichte und in der Gegenwart beleuchtet.
Dieser Blogbeitrag erschien auch auf der Artikelseite von "Panpagan".
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